Vom Mut, Menschleben zu retten. Mit den Ansätzen von Service Design Development Erste Hilfe in Österreich neu denken und gestalten .

Kunde: Österreichisches Rotes Kreuz

„Das Ding funktioniert“ – mit diesem Satz beschreibt Bernhard Reiter, Chef des Bildungszentrums des Roten Kreuzes, den Moment, in dem im bewusst geworden ist, dass der Service Design Development Ansatz aufgeht. Als Initiator des Projekts „Erste Hilfe groß gedacht“ war er es, den 2016 die Zahlen zur Ersten Hilfe in Österreich aufhorchen ließen:

65% der österreichischen Bevölkerung haben Angst Erste Hilfe zu leisten

26% beträgt die theoretische Wahrscheinlichkeit Erste Hilfe zu leisten

Die Wahrscheinlichkeit einen Herzstillstand außerhalb des Krankhaus zu überleben ist niedrig

Vergleicht man diese Zahlen mit Deutschland, so schneidet Österreich deutlich schlechter ab: Die ROSC Rate beträgt dort aktuell 42%, in Österreich jedoch nur 20%.
(ROSC Rate: Return of spontaneous circulation – niedriger Wert entspricht höherer Wahrscheinlichkeit, das Szenario nicht zu überleben).

Aus dem ersten Schreck der Zahlen, folgte dann als Konsequenz, die Leistungen im Bereich der Ersten Hilfe zu hinterfragen. Bei knapp 200.000 Absolventen pro Jahr und einem Marktanteil von rund 80% sieht er die Verantwortung für diese Zahlen auch bei seiner Organisation, dem Roten Kreuz. Bernhard Reiter ist ein Mensch, der handelt – und er schreitet mit dem Mut voran, den er jetzt auch von seiner Organisation und im Endeffekt auch von der gesamten österreichischen Bevölkerung verlangt.
Bei dem Projekt „Erste Hilfe groß gedacht“ entschied man sich bewusst gegen eine klassisches Projektmanagement, sondern wählte eine agile Designarchitektur. Der Zugang war „anders“, wie Reiter feststellt, und das zeigte sich schon in der Art und Weise, wie sich das Service Design Development präsentierte. Auch wenn die Andersartigkeit des Zugangs Reiter zunächst auch Nervosität bereitete, so war es ihm und der Geschäftsleitung bewusst, dass man dieses Thema, das in seiner Größe und Wichtigkeit ein Alleinstellungsmerkmal hat, anders angehen muss.

Das Projekt wird von Cordelia König-Teufelberger und Barbara Weber-Kainz betreut. Die Herausforderung dabei ist, die notwendige, nachhaltige Einstellungsänderung, die in der gesamten österreichischen Bevölkerung stattfinden muss. „Ziel ist es, Erste Hilfe zur selbstverständlichen Pflicht und Kompetenz aller zu machen.“ – so Cordelia König-Teufelberger.

 

„Service Design zwingt die Unternehmen,

radikal die Kundensicht einzunehmen und die Bedürfnisse der Kunden, die in diesem Fall die österreichische Bevölkerung ist, in den Fokus zu nehmen.“

Cordelia König-Teufelberger

Die Organisation des Roten Kreuzes stellt dabei eine weitere Herausforderung dar:  ca. 70.000 Freiwilligen und über 8.000 hauptberuflichen Mitarbeiterinnen in ganz Österreich gilt es in geeigneter Art und Weise zu involvieren. „Im Laufe des Projektes wurde immer sichtbarer, wie viel Potential in den MitarbeiterInnen steckt. Diese oft verborgenen Talente zu aktivieren, gehört zu den vielen herrlichen Nebeneffekten des Ansatzes. Die Methode Service Design ist in diesem Fall nahezu ideal. Gerade Organisationen mit hohem Marktanteil neigen dazu, sich auf diesem ‚auszuruhen‘ – Service Design zwingt sie jedoch, radikal die Kundensicht einzunehmen und die Bedürfnisse der Kunden, die in diesem Fall die österreichische Bevölkerung ist, in den Fokus zu nehmen.“ – stellt Cordelia König-Teufelberger fest.

Die Freiheit, nicht alles durchzuplanen

Durch die Entscheidung für eine agile Designarchitektur wurde die Freiheit gewonnen, nicht alles durchzuplanen, und Raum für überraschende Impulse zu schaffen. Die Beraterinnen beschrieben 7 Designelemente (siehe Abbildung 1). Deren wirkliche Ausgestaltung wurde jedoch laufend auf Basis der gemachten Erfahrungen angepasst und entwickelt.  Das Rote Kreuz, das (notwendigerweise durch seine Aufgaben im Katastrophenmanagement) stark hierarchisch und föderalistisch aufgebaut ist, geht mit diesem Ansatz völlig neue Wege. Kein feststehender Projektplan, interdisziplinäre Teams, Einbindung der Bevölkerung, Integration aller Landesverbände und Dienstebenen – diese Kernaspekte des Projekts sind für viele Mitwirkende Neuland.

Mit der Kick-off-Veranstaltung im März 2019 in Salzburg wurde das Projekt eingeleitet. Die Teilnehmenden waren bunt gemischt – sowohl die Führungsriege, alle Landesverbände als auch Freiwillige waren anwesend. Sie alle führten nach dem Event in Zweier-Teams mit Menschen ihrer Wahl Interviews, um die unterschiedlichsten Bedürfnisse im Kontext Erste Hilfe zu erforschen. „Die Hinweise aus der Bevölkerung gaben schon Richtungen für die weitere Ideenentwicklung vor. Die Bedürfnisse zu erforschen war für viele RK MitarbeiterInnen ausschlaggebend für die eigene Einstellungsänderung zum Thema Erste Hilfe.“, erinnert sich Cordelia König-Teufelberger. Daran anschließend bildeten sich Projektteams, geographisch aufgeteilt und interdisziplinär zusammengewürfelt, die ausgestattet mit den Tools aus dem Service Design auf Basis der Interviewergebnisse neue Ideenkonzepte ausarbeiteten. Parallel dazu wurde nochmals groß aufgemacht und alle ÖRK-MitarbeiterInnen zu einem Ideen-Wettbewerb zum Thema „Erste Hilfe groß gedacht“ eingeladen.

Die „Einfach mal machen lassen“- Philosophie

Auch wenn das eigentlich Ziel, nämlich eine massive Verbesserung der Ersten Hilfe Leistung in Österreich, erst in zehn Jahren erreicht sein kann, so sind zum derzeitigen Zeitpunkt schon bedeutende Erfolge zu verzeichnen.
Das Resultat, dass die Projektteams eigenständig, über alle Hierarchiestufen hinweg Lösungen entwickelt haben, Perspektiven fusionierten und Experimente eingegangen wurden, sieht Bernhard Reiter als eins der bisherigen Highlights in dem Projekt. Das enorme Potenzial, das in den eigenen Mitarbeitern liegt, ist hier deutlich sichtbar geworden, und fand bei der Ideenpräsentation seinen bisherigen Höhepunkt. Freigesetzt wurde es vor allem durch das bewusste Weglassen von durchgestylten Projektplänen und dem Mut, Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Für Bernhard Reiter war diese „Einfach mal machen lassen“ Philosophie eine große Umgewöhnung – und doch hat sie teilweise schon in seinen Arbeitsalltag Einzug genommen. Füreinander arbeiten, Erfahrungen zurückfließen lassen und die Kundensicht einnehmen – das sind die Kernelemente, die „sehr hängen geblieben sind“.

„Das Resultat, dass die Projektteams eigenständig,

über alle Hierarchiestufen hinweg Lösungen entwickelt haben, Perspektiven fusionierten und Experimente eingegangen wurden, sehe ich als eins der bisherigen Highlights in dem Projekt.“

Bernhard Reiter, Leiter Bildungszentrum 

Der Flow darf nicht abreißen – wie geht es weiter?

An diesem Zeitpunkt des Projekts ist es wichtig, dass der Ball im Rollen bleibt, da sind sich alle Projekt-Verantwortlichen einig. Von den vorgestellten Ideen werden nun pro Landesverband jeweils zwei ausgewählt und nach Belieben umgesetzt – in Größe und Form der Umsetzung sind die Landesverbände gänzlich frei. Diese Phase ist für Cordelia König-Teufelberger entscheidend: Die Prototypen der Ideen werden getestet, bevor sie in den Markt eingebunden werden. Diese Methode ist deshalb so effektiv, da eine wirksame Implementierung der Konzepte sichergestellt wird – das heißt die Ideen werden auf ihre tatsächliche Wirksamkeit geprüft und an die Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst. Begleitet wird der Prozess von einem Forschungsteam der MedUni Wien. Weitere Schritte sind eigene Erste Hilfe Beauftragte im Roten Kreuz zu ernennen und das Konzept der Interdisziplinarität beizubehalten und weiter auszubauen. Das erklärte Ziel ist es, die Überlebensrate in Österreich zu erhöhen. Für Bernhard Reiter ist eins sicher: er kann sich an kein Projekt in seiner langjährigen Erfahrung beim Roten Kreuz erinnern, das eine derartige Größe, Länge und Wichtigkeit hatte und derart viele unterschiedliche Beteiligte eingebunden hat.